Paralleluniversen. Zwischen Elit und Starnacht

Paralleluniversen. Zwischen Elit und Starnacht

Intro – Aus einer anderen Welt

Ich glaube, alles zu wissen, weil ich alles wahr zu nehmen meine, was rund um mich und rund um den Erdball geschieht. Ich verfüge über eine Vielzahl an Informationsmöglichkeiten: Radio, Internet, allabendliches Zappen durch unterschiedlichste Fernsehformate, die mich auch über jene Dinge am Laufenden halten, die mir bei zielgerichteter Medienkonsumation entgehen: Junglecampstars, getauschte Ehefrauen und Ehefrauen suchende Bauern, bloß gestellte Models, mit der Irritation des Publikums spielende Transsexuelle und frisch geborene Zookinder. Darüber hinaus erreichen mich Einladungen zu unterschiedlichsten Events über Plakate am Straßenrand, wodurch ich mich informiert darüber fühle, wer gerade wo versucht, Menschen mit volkstümlicher Musik, Schlager und Batman-, Wasser- und anderen Shows zu unterhalten.

Und dann turne ich meine Rückenübungen machend knapp nach 22.00 Uhr vor dem Fernseher, und ich sehe im ORF einen mir völlig unbekannten in Lederhosen gekleideten jungen Mann auf einer Bühne über „Heimatsöhne“ singen.

(…)
liaba herr gott,
i bitt di loss des imma so sein
viel geliebte heimat mein
es is da fleiß und die kraft
einer stoakn männerhand
des hoate handwerk liegt bei uns im bluat
ganz oda goaned dafür steh i mit meim wort
wos ma gern mocht maocht ma guad
heimat heimat
liabes schenes land
wir stehn zu dir weil ma heimatsöhne san
wie a adler der ganz hoch oben und nur in freiheit kommt zur ruh
kehrn da ewigen heimat zu (…)
(http://www.songtextemania.com/heimatsohne_songtext_andreas_gabalier.html)
 

FPÖ Parteitag vermute ich sofort, doch für ein Informationsformat befinde ich mich zur falschen Zeit am falschen Sender und außerdem ist der musikalische Beitrag einfach zu lang. Volkstümliche Unterhaltungssendung, in der sich mehrere „Stars“ – häufig auch mit bodenständigem „Heimat“-Gesäusel – um die Gunst der Musikkonsumenten bemühen. Doch keine Zwischenmoderationen sondern der junge Mann sagt vor Selbstbewusstsein strotzend seinen nächsten Titel an. Verwundert stelle ich fest, dass der österreichische öffentlich rechtliche Sender das Konzert eines einzigen dieser volkstümlichen Schlagerinterpreten überträgt. Meine Turnübungen halten mich davon ab, meiner Abneigung gegenüber dem Dargebotenen folgend weiterzuzappen. Menschen in Tracht oder vielmehr Trachten imitierenden Kleidungsstücken jubeln dem Sänger zu. Viele Menschen. Junge Menschen. Eine Halle von Menschen. In Wels möglicherweise, denke ich mir. Oder irgendwo in den Alpen – Salzkammergut, aber dort fällt mir keine passende Location ein für ein solches Spektakel. Der Sänger blickt auf die rund um ihn wogenden Besuchermassen. Ein Kameraschwenk durch die Halle folgt seinem Blick.

Wiener Stadthalle. 12.000 Besucher. Es gibt einen Menschen, der die größte österreichische Konzertlocation füllt und dessen Konzert im ORF übertragen wird, den ich nicht kenne, dessen Name, den ich schließlich dem Teletext entnehme, ich noch nie zuvor gehört habe, über dessen Existenz ich auch bei ziellosem Zappen kein einziges Mal bewusst gestolpert bin, dessen Plakate mich noch nie eingeladen haben, zu einem seiner Konzerte zu kommen. Kein „Ah, der ist das!“ und auch kein „Ah, von dem haben sie neulich geredet!“ Komplette Unkenntnis meinerseits. Und 12.000 Menschen haben viel Geld ausgegeben, um ihn live in der Stadthalle von „Heimatsöhnen“ singen zu hören.

Conclusio: Ich weiß nichts, weil ich nur wahrnehme, was mir genehm ist, und auch weil man längst aufgegeben hat, „meinereins“ mit bestimmten Informationen zu erreichen, weil es eine Welt gibt, die „meinereins“ nicht bedarf.

Europäische Literaturtage Spitz – Schlusspunkt

Der Beginn des Vortrags erinnert mich an Harpe Kerkelings „Hurz“. Wissendes Lachen zweier Damen in der ersten Reihe. Schweigen, das sowohl als interessiert als auch als betreten gewertet werden kann. Erneutes wissendes Lachen der Damen, gefolgt von einem nach intellektuellen Allianzen suchendem Blick in das Publikum. Man lacht zwar nicht zurück, aber man lächelt verständig. Man ist unter sich und weiß sich in das Setting einzufügen.

Ich sitze am Rand und weiß mich nicht einzufügen. Ich bin ungerecht gegenüber dem Vortrag, und ich bin ungerecht gegenüber dem Publikum. Ich bin immer noch an der Verarbeitung der „Starnacht Wachau“. Ich sehe die glücklichen Gesichter vor mir: des Bürgermeisters, der Gemeindevertreter, der Inhaber von Tourismusbetrieben. „Genau das braucht die Wachau!“ war der gemeinsame Tenor des Abends. Der common sense. Aber kann man in Anbetracht einer Starnacht von „Sense“ sprechen?

Und doch: Diese vielen glücklichen Gesichter. Der Stolz, dieses große „Fernsehereignis“ im eigenen Ort, in der eigenen Region zu haben.

Ich fühle mich erinnert an Freunde, die mir ihre „tollen“ Frauen oder Männer vorgestellt haben. Als heiß begehrte Personen, wurden sie mir präsentiert, doch ihr Reiz resultierte allein aus der Tatsache, dass sie Moden gehorchten und so aussahen, wie alle anderen aussahen, genauso gestylt, sich genauso bewegend, sich genau für die selben Dinge interessierend: „Sex and the City“, Fitness Center, japanische oder italienische Küche, Snowboard, Autos, Shoppen,…. Sie schienen so angenehm weil so konform wie Reihenhausanlagen, H&M Bekleidung, Mac Donald’s Menues, Cluburlaube,…. Vermeintlich bar jeder bösen Überraschung, und gleichzeitig das Bewusstsein vermittelnd, durch die Beziehung zu ihnen ein großes, weil medial viel propagiertes Ziel erreicht zu haben. Der zum Ideal erhobene 0815 Typus: fehlende Ecken und Kanten ermöglichen einen reibungslosen und damit völlig stressfreien und entspannten Genuss.

Nur bei der „Starnacht“ handelt es sich um keine Beziehung, sondern um einen One Night Stand, der offensichtlich viel Spaß macht. Und mit der „Starnacht“ ist Rossatz nicht länger das „Serbien“ der Wachau. Rossatz gehört endlich dazu. Und was spricht dagegen, sich eine Nacht mit einem attraktiven Partner zu vergnügen?

Herbstwandern I: Zuhörer

Ebenfalls an jenem Wochenende. Herbstwandern. Ein touristisches Angebot, bei dem jeweils eine Etappe am Welterbesteig Wachau künstlerisch und kulinarisch inszeniert wird, um Gästen und Einheimischen die Schönheit dieses Rundwanderweges rund um die Wachau näher zu bringen.

Der Instrumentenerfinder und Klangkünstler Hans Tschiritsch spielt gemeinsam mit Pamelia Kurstin bei einer kleinen Labestation oberhalb von Weißenkirchen, um für die musikalische Wanderung „Nomaden des Seins“ zu werben, die eine Woche später von Rossatz nach Melk führt, und bei der der Welterbesteig und besondere Orte in der Wachau von sieben hervorragenden Musikern und einigen speziellen Gästen bespielt werden. Ein einmaliges, auf Improvisation basierendes Musikprogramm.

Die Gäste an den Tischen plaudern und eine Dame im Publikum weist mit sichtlicher Begeisterung auf die Besonderheit der Instrumente hin, die Tschiritsch spielt. Das Musikstück endet. Applaus und Anerkennung der rund 20 anwesenden Personen.

Eine Dame kommt den Wanderweg herauf zur Labestation. Tschiritsch und Kurstin spielen weiter. Die Dame setzt sich etwas abseits auf den Wegesrand, packt ihre mitgebrachte Jause aus – und hört zu.

Starnacht. Die Entscheidung

Was ist Europa? Festung. Trauma. Traum.

Auch wenn ich mich dagegen zu wehren versuche, beschäftigt mich an diesem Abend eine andere Frage. „Soll ich die Starnacht besuchen – oder nicht?“ Starnacht, ein mit öffentlichen Mitteln produziertes Fernsehereignis, bei dem eine Vielzahl an „Stars“ – oftmals gerademal im deutschen Sprachraum bei eingefleischten Schlagerfans bekannt – auftreten, um zum Sound aus der Konserve ihre Lippen und ev. auch ihre Hüften zu bewegen.

Zugegeben: Eingefleischte Schlagerfans gibt es mehr als Personen, die die „Europäischen Literaturtage“ kennen. Deutlich mehr. Bis die „Europäischen Literaturtage“ die Stadthalle mit all ihren Gästen gefüllt hat, müssen mindestens 50 Jahre verstreichen – und selbst da wäre sie auf Grund all jener, die in den nächsten 50 Jahren die Literaturtage mehrmals besuchen, nicht voll. Aber muss ich deshalb trotzdem einem gemeinsamen CD-Hören den Vorrang gegenüber den „Europäischen Literaturtagen“ geben?

„Ich muss.“ Und ich weiß es. Schließlich erwarte ich mir auch, dass die Rossatzer zu den von uns organisierten Veranstaltungen kommen, deren inhaltliche Programmatik ihnen sicher oft nicht weniger Überwindung abverlangt als mir das Musikprogramm bei der „Starnacht“.

Wolferl! Wolferl! Wolferl!

Eigentlich müsste er einen Platz bei den Europäischen Literaturtagen haben. Schließlich ist er einer der großen Autoren und Interpreten von Dialektliedertexten des Landes. Gewiss, der Text vom „Hofer“ ist nicht von ihm sondern von Joesi Prokopetz, aber auch von Wolfgang Ambros gibt es einige Liedertexte, denen man – meines Erachtens – ihren literarischen Wert für die österreichische Mundartdichtung nicht absprechen kann. Nachdem es bei den Europäischen Literaturtagen stets auch um die Diversität der Sprachen und Dialekte Europas geht, wäre ein Beitrag von Wolfgang Ambros in diesem Sinne durchaus von Bedeutung.

Doch Herr Ambros ist nicht bei den Europäischen Literaturtagen sondern bei der „Starnacht in der Wachau“. Und in jenem Zustand, in dem er die Bühne in Rossatz betritt, wäre er auch in Spitz nicht diskussionsfähig gewesen. Er steht im Scheinwerferlicht, und er tut so, als würde er singen, und er tut so, als würde er Gitarre spielen. Vorgeführt wird er, das einstige Aushängeschild der österreichischen Musikindustrie. Ein Künstler, der längst zur Maschine geworden ist, die produziert und produziert und produziert, bis sie den Geist aufgibt und entsorgt werden kann.

A Mensch mecht i bleim und i wü net verkauft wern
wia irgenda Stickl Wor!
Net olles wos an Wert hot, muas a an Preis hom,
oba moch des amoi wem klor!
(http://www.wolfgangambros.at/content.php?page=disko&which=62&action=liedtext&m=1&t=1)
 

Diese Nummer gibt er bei der Starnacht nicht zum Besten. Er muss anderes singen. Tobender Applaus. Alfons Haider zerbricht mit seinen Fragen an der illuminierten Gelassenheit von Wolfgang Ambros. Trotzdem wird ihm erlaubt, für eine zweite Nummer auf der Bühne stehen zu bleiben. Mit „Wolferl“ macht man immer noch Quote. Und die „lebende Ikone des Austropops“ tut ein zweites Mal so, als würde sie singen, bevor man sie wieder zurück in den Backstagebereich und zu den alkoholischen Getränken lässt. Aber vielleicht meinen sie es ja alle gut mit ihm, und man versucht diesen ehemaligen großen Geist des Landes mit Auftritten wie diesem einfach nur am Leben zu erhalten…

Immer muaß i mit euch Karten spün
A wanns mi gar net gfreut
Nur wegen euch andern muaß i mitspün
A wann mi alles anfäult
 
A Regel habts fürs ganze Lebn
Geben – ausspün und stechn
Oder schen brav zuagebn
(…)
Aber ab heut könnts mi vergessen
I spü des, was mi grad gfreut:
Domino oder Pfitschigoggerln ganz alla
Weil ab heute hab i Zeit
(…)
I drah zua, weil i bald gnua hab
Schmierts euch euer Spü in de Haar
Es werd’s an andern, an andern Trottel finden
Der mit euch spüt, des is ma klar
(…)
(http://www.wolfgangambros.at/content.php?page=disko&which=149&action=liedtext&m=1&t=7)
 

Dieses Lied wird für „Wolferl“ leider auch nicht zugespielt. Schade.

Herbstwandern II: glanzloser Glanz

Ganz so war „Herbstwandern“ von uns nicht konzipiert. Doch wer sagt „nein“, wenn Radio Wien bereit ist, einen Wandertag in die Wachau zu machen. Und so marschieren am zweiten Herbstwandertag eben 500 mit Rücksäcken eines Billigdiskonters ausgerüstete Radio Wien Hörer von Krems nach Dürnstein. Manche von ihnen ärgern sich trotz mitwanderndem Biopionier Werner Lampert über die Preise der am Weg und am Schlusspunkt angebotenen biologischen Produkte aus der Region. Bei ihrem Billigdiskonter ist das alles günstiger… Und viele wissen nach schnell absolvierter Etappe ohne längere Aufenthalte bei den Musikern an den Stationen nicht, was sie den restlichen Tag – bis sie der Radio Wien Bus wieder nach Hause bringt – in Dürnstein mit sich anfangen sollen. „Wann mi des Reisebüro net vermittelt hätt…!“

„Und für unsere Radio Wien-Wanderer: Gregor Glanz!“ Nach Alessa, bei der es sich, wie ich am Vorabend bei der Starnacht erfuhr, nicht um eine chinesische Billigkopie italienischer Küchengeräte handelt sondern um eine von mir zumindest so empfundene österreichische Billigkopie von Celine Dion, betritt nun Gregor Glanz die Bühne, um die Radio Wien Wanderer in der Wachau bei Laune zu halten. „Gestern noch in Rossatz bei der Starnacht, und heute…“

Wenn Gregor Glanz zum Sound einer überlaut aufgedrehten Tonanlage die Bühne betritt, dann beginnt man zu verstehen, warum sich Roy Black nach einer Vielzahl solcher Auftritte das Leben genommen hat, und es wundert mich generell, wie man solche Auftritte ohne massiven Einsatz von Drogen überstehen kann. Liest man übrigens in den Biografien der während der „Starnacht“ aufgetretenen Künstler auf Wikipedia nach, so kommt man auf eine Vielzahl an Selbstmordversuchen und biographisch belegten Drogenproblemen. Nicht so bei Gregor Glanz, in dessen Wikipedia Eintrag nur auf seine Beziehung zur Schlagersängerin Petra Frey verwiesen wird, die ihrerseits ebenfalls noch keinen Selbstvorversuch hinter sich hat – nur einen Sieg bei „Dancing Stars“, was in Anbetracht ihrer Tätigkeit im Schlagerbereich nicht einmal als künstlerischer Selbstmord zu werten ist, denn hier ist es für Interpreten völlig egal, ob sie bekannt dafür sind, dass sie schön singen, oder eben ob man sie als Tänzer bejubelt, als Köche schätzt oder ob man deshalb über sie spricht, weil sie lebendige Maden verspeisen.

Glanz sorgt mit auf der Bühne zur Schau gestellter Lebensfreunde vor ein paar verbliebenen Gästen an Biertischgarnituren gleich zu Beginn mit dem Cover einer Elvis Nummer für gute Stimmung, die sich in einem mäßig motivierten Geschunkel äußert.

Ich verlasse den Ort des Geschehens und hoffe für Gregor Glanz, dass er Auftritte wie diese besser verkraftet als so manch anderer Schlagerstern. Einen Blick zurück auf ihn und seinen Auftritt werfend frage ich mich, ob er – noch auf den Namen Bernd Brunmayr hörend, so sein auf Wikipedia angeführter eigentlicher Name – einen solchen Auftritt vor Augen hatte, als er beschloss, nur mehr unter dem Künstlernamen „Gregor Glanz“ aufzutreten: alleine, ohne einen einzigen Musiker auf der Bühne, völlig dem Abspielen eines digitalen Tonträgers ausgeliefert. Dafür hätte auch sein erster Künstlername „Bernie Bennings“, den uns ebenfalls Wikipedia verrät, gereicht. Und „Lonesome Bernie“ wäre für eine solche Elvis-Performance wahrscheinlich am zutreffendsten.

Dionysus, Where Art Thou?

Ich betrete die Kellerräumlichkeiten des Schlosses in Spitz. Nach der literarischen Revue sitzen meine Kollegen noch um einen Tisch. Man erkundigt sich sofort nach meinen Eindrücken von der „Starnacht“. Ich erzähle bereitwillig von den wegen des Regens eingetüteten Menschen, die – sich vor der Bühne hin und herschiebend – an eine Pinguinkolonie erinnerten. Ich erzähle von perfekter Organisation, von glücklichen Menschen, von namenlosen Sternen, die „deinen Namen“ tragen, von Hintergrundsängern mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten (linkes Bein vor, linkes Bein zurück, rechtes Bein vor, rechtes Bein zurück,…), und ich meine, dass man eigentlich nichts gegen all das einwenden könne.

Irgendwann nervt meine Erzählung meine Kollegen, und sie meinen, genug erfahren zu haben von jenem Event, denn es gelingt mir nicht durch Ironie meine Ratlosigkeit zu verbergen, wie ich mit dem Erlebten umzugehen habe. Zum Beispiel mit der Tatsache, dreitausend oder mehr glückliche Menschen gesehen zu haben, glücklich, obwohl Bäume gefällt werden mussten, um Platz zu machen für die Tribünenbauten und für die Bühne, glücklich, obwohl Kartenpreise von mindesten 65,- bis zu 1.000,- Euro (bei letzterem Ticketpreis allerdings mit Limousinenservice und persönlichem „Diener“) bezahlt werden mussten, glücklich, obwohl sie nichts anderes zu hören bekamen, als sie vom Radio oder von erworbenen Tonträgern ohnehin kannten, glücklich, obwohl sie selbst nichts anderes waren als Kulisse für ein riesiges mediales Spektakel, das sie als Publikum benötigt, um sich selbst eine Bedeutung zu geben, das es allein vom Gebotenen her nicht einmal ansatzweise besitzt.

Ich hole mir ein Glas Wein, und ich erkundige mich brav, wie denn die Revue gelaufen sei, und ich höre von dem großen Erfolg – vor ein paar Dutzend Menschen.

Vor meinem geistigen Auge sind da noch immer ein paar tausend Menschen, die ich kurz zuvor noch feiern sah, trotz strömenden Regens zu Beginn, trotz künstlerisch wertloser Darbietungen, trotz völlig überzogener Ticketpreise. Und ich frage mich, warum ein Besucher der Europäischen Literaturtage nicht so ekstatisch feiern kann, wie es jene Menschen tun, die die „Starnacht“ besuchen. Stöhnen Missbrauchsopfer prinzipiell lauter, wenn sie sich nicht eingestehen wollen, dass sie vergewaltigt werden? Oder handelt es sich bei der „Starnacht“ gar nicht um Missbrauch? Ist diese „Starnacht“ vielleicht nichts anderes als ein dionysisches Fest, das sich im Bereich der Kunst nach religiöser Selbstbeschränkung, Aufklärung und staatlicher Repression auf Formate wie die „Europäischen Literaturtage“ beschränken muss, und somit ein auf den Intellekt reduziertes Minderheitenprogramm ist, das die Welt da draußen nicht mehr erreicht, die Welt da draußen, die heute vor allem jenen Konzernen überlassen wird, die den Dionysischen Kult als Werbefläche zu nutzen wissen? Und die Bacchantinnen tanzen lustvoll in Rossatz für die Götzen des Kommerz, und der Geist schwebt durch Spitz, und weiß keine Körper mehr zu bewegen?

Vielleicht sollte man bei den Europäischen Literaturtagen überlegen, wie sich die Kunst diesen dionysischen Kult wieder zurückerobert. Zurückerobert von den Religionen, die ihn in Hochämter und andere Zeremonien gezwängt haben, in denen Dionysos nicht dazu einlädt aus sich heraus zu gehen sondern die Anwesenden auffordert, sich der über den Kult imaginierten Bedeutung einiger weniger Würdenträger zu unterwerfen. Zurückerobern von den Nationalstaaten, die ihn für nationale Wettkämpfe ohne jede Spiritualität missbrauchen, wo es letztlich nicht darum geht miteinander zu feiern sondern sich über einander zu erheben. Zurückerobern von Konzernen, die die Menschen berauschen, nicht um ihnen zu neuen Erkenntnissen und einem erweiterten Bewusstsein zu verhelfen, sondern um sie zu willenlosen Konsumenten ihrer Produkte und Dienstleistungen zu degradieren.

Monty Python: Das Fußballspiel der Philosophen. Vielleicht müssen die Denker, die sich bereits die ganze Zeit über auf dem Spielfeld befinden, einfach das Spiel und ihre Bedeutung und Funktion in diesem Spiel erkennen, losstarten, Tore schießen und bei strittigen Szenen „Abseits“ oder „Foul“ reklamieren und nicht von „Tabubrüchen“ und „Fehlentwicklungen“ sprechen.

Herbstwandern III – friedvoller Ausklang

Gregor Glanz Playback Sound dröhnt über Dürnstein. Ich fahre fort, um Otto Lechner, Hans Tschiritsch und die anderen „Nomaden des Seins“ von ihrer Station auf dem Welterbesteig abzuholen. Bald ist von Gregor Glanz nichts mehr zu hören. Sonntag Nachmittags Stille. Es ist knapp vor 16.00 Uhr.

Die Bühne ist ein kleines Stück Wiese neben dem Weg. Immer noch lagern Wanderer um sie herum in der Landschaft. Viel weniger Menschen als unten bei Gregor Glanz. Bedeutend weniger Menschen als gestern am anderen Ufer in Rossatz während der Starnacht.

Die Musiker und ihre Musik fügen sich ein in die Landschaft. Die Zuhörer fügen sich ein in die Landschaft. Kein Nachbar wird sich beschweren, weil Ottos Ziehharmoniker seine Nachmittagsruhe gestört hat. Es müssen keine Bäume gefällt werden, um Hans Tschiritsch einen Platz für seine Instrumente zu schaffen. Wenn Pamelia Kurstin keinen Strom für ihr Theremin hat, dann nimmt sie ihr Chello zur Hand. Jelena Poprzan spielt Geige und ruft in den sanft über die Rieden streichenden Wind. Und Karl Ritter hört man zu, nicht weil er Musiker in der „Chefpartie“ von Kurt Ostbahn war, sondern weil er Gitarre spielt wie kaum ein zweiter im Land.

Die Welt scheint in Ordnung – irgendwo oben inmitten der Steinterrassen und eine kleine Spur abseits des massenmedialen Mainstreams. Der heftige One-Night-Stand weicht wieder stillen, innigen und intensiven Beziehungen mit Partnern, die die Wachau nicht als bloße Kulisse benötigen, sondern die darum bemüht sind, sich einzubetten in ihre Landschaft, und die sich gemeinsam mit der Wachau vorwärts zu bewegen versuchen, in einem Tempo, das der Besonderheit dieser Landschaft angemessen ist. Und während Otto und Hans und die anderen vor ein paar wenigen Menschen improvisieren, erinnert man sich in Rossatz wohl immer wieder lächelnd an ein paar lustvolle Momente, deren Besonderheit ihnen niemand mehr nehmen kann – außer sie sich selbst, wenn sie einem Kult um diese „Starnacht“ verfallen und meinen, ohne sie nicht mehr leben zu können – denn das Umgekehrte ist wohl der Fall.

Nachspann: von Inkei zu Otto

Im Rahmen von „Backflow“ am Nachmittag des Eröffnungstages der Europäischen Literaturtage kamen Vertreter von Kulturinstitutionen aus dem Donauraum zusammen, um gemeinsam zu überlegen, wie man eine Gleichberechtigung von ost- und westeuropäischem Kulturschaffen erreichen kann. In einem der Diskussionsforen stand die Frage im Raum, welche Maßnahmen man zu setzen habe, um den Kulturtransfer zwischen Ost und West ausgewogener zu gestalten.

Peter Inkei hatte davor davon gesprochen, dass sich Europa über die Kultur definiere. Aber über welche Kultur, fragte ich mich. Allein über die Kultur der europäischen Kolonialmächte, die noch vor 100 Jahren ihre Kultur über alle Kulturen der Welt gestellt haben, und sie heute nur mehr über jene Europas stellen können. Die Kultur der Briten, der Franzosen, der Italiener, der Spanier und Portugiesen, die Kultur der Skandinavier, die den hohen Norden kolonialisierten, wie auch die Kultur Österreichs, die sich über den halben Balkan und weite Teile Osteuropas erhob, und letztlich auch die Kultur Russlands, die all jene Staaten dominierte, von denen heute noch viele völlig weiße Flecken auf der europäischen Kulturlandkarte sind. Nur die Kultur des Osmanischen Reiches gilt nicht als europäisch, trotz ihrer deutlichen Spuren im Südosten Europas – aber das ist eine andere Geschichte. Und dann gibt es noch die Kultur des antiken Griechenlands, wobei es sich auch hier um die Kultur einer Kolonialmacht handelt, auch wenn man aus europäischer Sicht gerne vergisst, dass sich die Wurzeln dieser Kolonialmacht und damit auch der Großteil ihrer wichtigsten Zeugnisse nicht in Europa sondern in Asien und auch in Afrika befinden.

Wenn wir von Europas Kirchen sprechen, dann sprechen wir von jenen in Italien, England oder Frankreich, aber nicht von den Holzkirchen in der Ostslovakei oder von den Klöstern in Moldavien und Rumänien, wenn wir von Europas Brücken sprechen, dann reden wir über die Towerbridge oder die „Seufzerbrücke“ aber nicht über jene über die Drina oder von jenen in Edirne, wenn wir von Europas Künstlern reden, dann reden wir von jenen, die man im „Westen“ kennt, nicht aber von jenen, die bedeutend sind für die Kultur in Aserbaidschan oder in der Ukraine, und wenn man über Kaffeehäuser spricht dann über jene in Wien aber nicht – wie Hasan Kikic im Rahmen der Eröffnungsdiskussion urgierte – über jenes vermeintlich älteste Europas und immer noch existierende Kaffeehaus in Sarajewo.

„Das einzige Mal im Jahr, wo Europa die Vielfalt der europäischen Kultur bewusst wird, ist der Eurovisions Songcontest“, stelle ich zur Diskussion. Und letztlich blieb diese Feststellung unwidersprochen. Für ein Großereignis haben Albanien, Georgien oder Litauen eine eigene kulturelle Identität, und selbst wenn sie es mit irgendeinem, westliche Standards kopierenden Popsong versuchen, so präsentieren diesen doch Künstler ihres eigenen Landes. Und das „alte“ Europa ist jedes Mal auf’s neue erstaunt, wenn ein serbischer Beitrag von einer Vielzahl von europäischen Nationen acht oder zehn oder gar zwölf Punkte erhält. Selbst alte Songcontest-erprobte skandinavische „Freundschaften“ wirken plötzlich recht kümmerlich, denn auch mit den baltischen Staaten sind sie nun einmal nur zu acht. Gleichzeitig scheint aber ein kulturelles Bündnis zu existieren, das vom Balkan mit all seinen neuen Staaten weit in den Osten Europas reicht, wo sich ebenfalls viele neue Staaten befinden.

Nach diesem Wochenende in der Wachau mit all den unterschiedlichen Eindrücken würde ich diesen Diskussionsbeitrag weiter präzisieren. Es bräuchte auf allen öffentlich rechtlichen Fernsehkanälen Europas breitenwirksame Sendeformate, die sich dazu verpflichten, die Kulturen Europas zu präsentieren. Wie Hans Joachim Kuhlenkampf im Hauptabendprogramm über „Einer wird gewinnen“ für die neuen kulturellen Allianzen im Westen Europas warb, so gilt es heute mit grenzüberschreitenden Castingshows und anderen transnationalen Unterhaltungsformaten ein Bewusstsein für die Größe und Vielfalt dieses neuen Europas zu schaffen.

Und in diesen Prozess müssten sich die Künstler Europas dann auch aktiv involvieren, sich hineinreklamieren. Es ist großartig Jurij Andruchowytsch als Gast bei den Europäischen Literaturtagen zu haben, aber ich bin mir sicher, auch wenn ich am Tag nach der Starnacht in jenem kleinen Wirtshaussaal inmitten einiger weniger Menschen einfach nicht bereit für seine Darbietung war, er hätte bei der Starnacht mit dem Vortrag seiner ukrainischen Lieder die dreitausend Besucher und all die Fernsehzuschauer begeistert. Und möge er selber nicht die Bühnen solcher Formate betreten, seine Texte ließen sich auch von anderen Künstlern interpretieren. Man nehme sich ein Beispiel an Robert Gernhardt, der über Otto Millionen von Menschen erreichte. Denn ohne diese Verschränkung von Kultur und Kommerz, könnten die Künstler Europas ein böses Erwachen in ihrer kleinen, demokratiepolitisch nicht relevanten Parallelwelt erleben.

Wie aber wenn und es schlössen aus sich
Der Spaß und das Ernste? Schweres und Leichtes?
So, wie sich ausschließt Feuer und Wasser,
Mensch und Schweinsein, Gott und Schlange?
Es schweben die Schwerter über den Häuptern,
Es kommet zum Schwur für die Schwachen und
Starken:
Was also wollt ihr? Den Leichtsinn? Die Schwermut?
Trefft eure Wahl! Der Rest ist Schweigen.
(Robert Gernhardt)